Gesichter, Kapitel 1.1

Auf diese Nacht habe ich lange gewartet, viel zu lange. Das Warten hat mich wahnsinnig gemacht, mich therapiert und wieder wahnsinnig werden lassen. Endlich hat das verdammte Warten ein Ende. Endlich kann ich mein Gift schlucken, mein Heilmittel für den Wahnsinn des Lebens. Ob sie etwas ahnen? Unmöglich. Ob sie etwas spüren? Schon eher. Menschen spüren, wenn etwas in der Luft liegt, aber sie ignorieren es, bis es nicht mehr geht. Gleich werden sie es nicht mehr ignorieren können. Ich werde es ihnen einprügeln und sobald sie es begriffen haben, sobald sie endlich verstanden haben, dass sie heute Nacht sterben werden, wird es geschehen.

Wie sie da so zusammen sitzen wirken sie fast niedlich, wie die kleinen weißen Häschen, an denen sie die Medikamente für den Mob testen. Gezüchtet um zu leiden und zu sterben. Menschen sind anders. Menschen leiden gerne und noch lieber sehen sie dabei zu. Natürlich kein echtes Leid, sondern aufgesetztes, falsches Leid. Emotionen liegen im Moment wahnsinnig im Trend. Wie auf einer bizarren Modenschau glotzen die Menschen gebannt auf den kleinen krebskranken Jungen, der da gerade über den Laufsteg geschoben wird, weinen gemeinsam und drücken durch ein “Like” ihr Mitgefühl aus, während in der Welt ohne Internet abertausende Kinder an einer Erkältung verrecken. Dann gehen sie nachhause, schauen in den Spiegel, stellen fest das sie schon wieder zu fett geworden sind, setzen sich vor den Fernseher und verenden dann vor einer neuen Folge “Celebrity News Weekly” an einer Überdosis Diät-Pillen.

Ihr Lachen wird lauter, als ich mich ihnen nähere. “Die Conolleys machen gerade eine Ehekrise durch. Die ganze Nachbarschaft spricht bereits darüber. Angeblich hat er sie betrogen”. Banalitäten, so belanglos, dass es fast wehtut. Die Nachbarschaft wird bald neue Dinge zum Reden haben. Den brutalen Mord an fünf ihrer ach so geliebten Nachbarn und die Trauer der bedauernswerten Familien. Ob die Ehe der Conolleys das wohl aushalten wird? Hoffentlich. Worüber soll man sich denn sonst das Maul zerreißen, wenn die toten Körper der Ermordeten allmählich von den Maden zerfressen werden und die Polizei die Bedrohung für die Nachbarschaft wieder als unbedenklich eingestuft hat?

Jetzt trennen mich nur noch ein paar Meter von ihnen. Vorfreude. Ich hebe meine linke Hand und winke ihnen zu. Das Messer in meiner rechten zittert leicht vor Vorfreude. “Hallo, ihr fünf, dachte mir ich schaue mal vorbei.” Sage ich und die Vorfreude beginnt mich aufzufressen. Die Mimik in dieser Situation ist immer dieselbe: Ein gespieltes breites Lächeln, wenn sie sich zu mir umdrehen, dann entgleiten ihnen die Gesichtszüge für Sekundenbruchteile, weil sie nicht wissen wer ich bin. Schuld in ihren Augen, weil sie sich scheinbar nicht an mich erinnern können. An mich, jemand, der freudig Winkend das gemeinsame Wiedersehen begrüßt. Mein Lächeln verzieht sich zu einem fast unmenschlichen Grinsen, in dem Wissen, dass meine Vorfreude bald vorbei sein wird. Ich sehe in die falschen Masken der Wiedersehensfreude. In diesen Momenten kann ich sieh lesen wie ein Buch, ich weiß wer schreien wird, ich weiß wer wegrennen wird und ich weiß wer erstarren wird. Ich weiß wem ich die Kehle durchschneiden muss, wem ich einen Stuhl in den Weg werfen werde und ich weiß, wer bis zum Ende stocksteif zusehen wird. Die Vorfreude steigt ins unermessliche, als sie die Masken langsam sinken lassen und das Misstrauen in ihren Augen der Angst weicht. Endlich kann ich meinen Durst stillen.

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