Gesichter, Kapitel 1.1

Es war wieder einer dieser Nächte in denen Timothy Dalton bereute, Polizist geworden zu sein. Es war bei Leibe kein ruhiger Abend gewesen: Zwei Ladendiebstähle, eine übel zugerichtete Leiche im Hinterhof irgendeiner halblegalen Kneipe und ein Schusswechsel in einer der edleren Nachbarschaften. Wie gerne hätte er den Funk einfach ausgeschaltet, um gar nicht erst mitkriegen zu müssen, was er alles verpasste, während er eine Ruhestörung nach der anderen abklapperte. Einen Hund der unablässig bellte und so die vollkommen verzweifelten Nachbarn um ihre kostbare Ruhe brachte hatte sich in dem Moment geklärt in dem er eingetroffen war. Die Besitzerin hatte den Hund für zwei Stunden allein in der leeren Wohnung gelassen um “das süße, kleine Hündchenzimmer für die süße, kleine Bella” in ihrer neuen Wohnung den letzten Schliff zu verpassen. Als Überraschung für die kleine Bella, damit sie sich in ihrem neuen Zuhause direkt willkommener fühlte als in der nun leeren Wohnung, in der sie sich ständig von den “bösen, bösen Nachbarn” hat anhören müssen, was für ein unerzogener Kläffer sie doch sei. Der Rest waren gewöhnliche Beschwerden über die Lautstärke des Liebesspiels der Nachbarn oder der Musik oder von beidem zusammen. Nichts, was nicht jeden Abend in einer Großstadt passierte.

Die Bremse quietschte leise und erinnerte Timothy, der gerade in die Straße seines nächsten Einsatzes einbog, entfernt an das Fiebsen eines hungrigen Meerschweinchens, wenn man vor seinem Käfig mit einem Plastikbeutel knistert. Ein Herr John Schneider hatte auf dem Revier angerufen, weil die alte Nachbarin Frau Summers wieder einmal ihren Fernseher viel zu laut gedreht hatte und auf freundliches Klopfen nicht reagierte. Kurz flackerte in Timothy der Gedanke auf, dass die alte Frau bei einem Einbruch vielleicht niedergeschlagen wurde und jetzt bewusstlos in ihrer Wohnung liegt. Die Hoffnung, dass an diesem Abend vielleicht auch ihm etwas Spannendes passieren würde überwog für einen Moment die Professionalität, flaute dann allerdings schnell wieder ab. Zum einen sollte ein Gesetzeshüter so nicht denken und zum anderen war er der Letzte, der so ein Glück haben würde.

Den Einsatzort zu finden war nicht schwer. Die beiden betroffenen Häuser schienen sich einen Schreiwettbewerb zu liefern. Aus dem offenen Fenster im oberen Stockwerk des linken Hauses brüllte offensichtlich ein Fernseher mit enormer Lautstärke irgendeine Spülmittelwerbung in die Nachbarschaft hinaus, während aus den drei geöffneten Fenstern des Hauses zu Timothys Rechten irgendeine Oper schrillte. Mit schnellen Schritten näherte er sich der Vordertür des Opern-Hauses und drückte energisch auf die Klingel. “Willkommen in der liebevollen Welt der Schneiders! John, Claire, Zoey und Bobby”. Als sich die Tür öffnete überkam Timothy mit einem Mal die unwillkürliche Angst gleich zwei seiner Sinne zu verlieren. Die Lautstärke der Musik kam einem Presslufthammer gleich, der unaufhörlich auf Timothys Trommelfell eindrosch und die Tonlage der Sängerin hätte wahrscheinlich jeden Glasbläser in den Ruin getrieben, so dass Timothy reflexartig die Augen zukniff, um sie vor dem eventuell splitternden Glas seiner Brille zu schützen. Schnell fing er sich allerdings wieder, nahm erneut Haltung an und bedeutete dem schlaksigen Mann die Musik leiser zu stellen. Trotzig verschränkte dieser jedoch die Arme vor der Brust und brüllte ein “Nein!” gefolgt von etwas Unverständlichen aus der offenen Tür heraus.

Timothy wiederholte die Geste, diesmal mit einem Gesichtsausdruck, der unmissverständlich klarmachte, dass es sich dabei um einen Befehl, keine Bitte handelte, und legte die andere Hand locker auf seine Dienstwaffe. Sichtlich empört drehte sich der schlaksige Mann um und verschwand am Ende des Flurs um eine Ecke. Mit einem Mal verstummte die Musik, nur ein monotones Piepsen im Ohr blieb noch eine Weile, bis es erkannt zu haben schien, dass die Party vorbei war, noch schnell sein Glas leer trank und dann leicht torkelnd abzog. “Und das alles für welpenstarke 49,90! Nur bei Haustierwelt24”, tönte es von nebenan.

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