Gesichter, Kapitel 1.1

Kapitel 1 – Nächte in einer Großstadt

Die schlichten, heruntergekommenen Gebäude sind in das dämmrige rot der Abendsonne getaucht. Mit grimmiger Miene und einer Zigarette im Mundwinkel schreitet Matt durch die verlassenen Häuserschluchten. Straßenlaternen flackern auf. Hinter einigen Fenstern brennt Licht, halb verdeckt durch Staub und lumpige Gardinen. Matt beschleunigt seine Schritte und biegt in eine Seitengasse ein. Auf einen Schlag scheint das Licht der Hauptstraße wie weggewischt. Nur irgendwo weit hinten in der Gasse flackert eine schwache Lampe. Ein einzelner kleiner Soldat, umzingelt und ohne Aussicht auf Erfolg. Der Mann hält kurz inne, beobachtet den verzweifelten Todeskampf des tapferen Kämpfers. Zielstrebig nimmt er seine Fährte wieder auf, geht ein paar Schritte in die Gasse hinein und bleibt dann kurzentschlossen vor einer angelaufenen Metalltür stehen. Der wagemutige Soldat leuchtet mit einem Mal auf, hell wie noch nie. Ein letztes Aufbäumen gegen die erdrückende Schwärze der Nacht. Für wenige Sekunden scheint der Kampf gewonnen. Sogar Matt wirkt kurz überrascht. Im selben Moment bricht die Dunkelheit über dem kleinen Soldaten zusammen, verschluckt alles Licht und hüllt die Leiche des machtlosen Helden in Finsternis. Matt nickt leicht, zieht noch einmal an der Zigarette. Der glühende Stummel erleuchtet kurz seine harten Gesichtszüge. Ein heftiger Tritt und die Tür fliegt auf. Erschreckte Schreie, aufgeregte Rufe, Waffen werden gezogen. “Polizei!”, brüllt Matt.

“Herr Gott, Matt! Was soll denn der Mist, wir hätten dich fast abgeknallt.” Zustimmendes Murmeln. “So einen Quatsch können wir hier nicht gebrauchen, nicht heute Abend verdammt.” Matthews Mundwinkel zuckt einmal kurz, dann wird seine Miene steinhart. Seine Augen fixieren den Mann, der eben noch gesprochen hatte. Nick ist eine Flasche, ein Wurm, der sich nur zu gerne im Dreck der Straßen wälzt, wenn die Bezahlung stimmt. Wäre das hier die High-School, dann wäre er wohl sowas wie der Wasserträger des Quarterbacks, der nur deshalb dazu gehört, weil er so leicht zu manipulieren und zu schikanieren ist. Aber das hier ist nicht die High-School, sondern die dreckige Realität einer schmierigen Industriehalle. In dieser Welt steht Nick über Matthew, wenn auch aus dem gleichen Grund, der auch den verdammten Wasserträger, bei den coolen Jungs stehen lässt. “Sorry, Chef, wollte mir nur einen kleinen Scherz erlauben.” Matthew fühlt sich dreckig, als hätte er das Wort “Chef” gerade aus einem Eimer voller verrottender Gedärme ziehen müssen.  “Jaja, schon gut du verfluchter Idiot. Geh an die Arbeit, in zehn Minuten geht’s los. Heute Abend darf uns kein Fehler unterlaufen. Das ist `ne große Sache für den Boss.”

Susan Conston. Der große Boss. Schmierig wie ein Stück Butter, falsch wie eine Chanel Handtasche vom großen Basar in Istanbul und gerissen wie ein Fuchs. Die Geschichten um Susan Conston sind in der Unterwelt mittlerweile in etwa so populär wie die Märchen der Gebrüder Grimm und gleichermaßen erfunden. Matt kennt sie alle und glaubt an keine davon. Constons Aufstieg in der Unterwelt ist zwar erstaunlich, allerdings in keinster Weise beeindruckend. Schleimereien, Hinterhalte, Lügen und Intrigen. Keine Massenschlachten am LA River, kein heldenhaft über die Bühne gebrachter Drogenschmuggel. Susan wusste immer schon mit Leuten umzugehen und ließ meist andere die Drecksarbeit erledigen; sie war ein Redner, kein Macher.

Matt fährt sich mit der Hand durch den ungepflegten Drei-Tage-Bart und lächelt grimmig in sich hinein. Diese Nacht ist nicht nur für den Boss wichtig, sondern auch für ihn. Nick wird in seiner grenzenlosen Überheblichkeit ein Fehler unterlaufen, dafür würde Matt sorgen. Ein schrecklicher Fehler, der Nick auf den einen oder den anderen Weg das Leben kosten wird. In Matthews Welt gibt es viele Wege zu sterben, vor allem durch Dritte.

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