Gesichter, Kapitel 1.2.

Ich gebe mir nur ein paar Sekunden, genieße mit geschlossenen Augen die neue Welt, die ich erschaffen habe. Für diesen kurzen Moment habe ich den senilen alten Mann mit dem langen Bart von seinem Thron gestoßen, bin zum Erschaffer und Zerstörer geworden, das Alpha und das Omega einer gottverlassenen, egoistischen, widerlichen Weltordnung. Keine sterbenden Kinder, keine quietschenden Tiere, keine schwätzenden Marketing-Experten, nur die blutige Ruhe vor dem unausweichlichen Sturm. Ich habe der Welt gegeben, was sie will, in dem ich ihr genommen habe, was sie ist.

Ein letzter tiefer Atemzug. Ich stehe in einer Blutlache. Um mich herum fünf tote Körper, deren Bewohner ich in nur wenigen Sekunden zuvor so innig kennengelernt habe, wie wohl niemand vor mir. Für einen kurzen Augenblick habe ich ihnen erlaubt Menschen zu sein, wahren Schmerz und wahre Angst zu spüren. Keine Masken, keine fremden Probleme, pure Menschlichkeit für den kurzen Augenblick vor ihrem Tod.

Was jetzt vor mir liegt und mit leerem Blick ins Nichts starrt hat alle Menschlichkeit verloren, das ultimative Produkt der modernen Gesellschaft. Eine leere Hülle; nicht mehr als das, was die Welt in ihr sehen möchte. Einen liebenden Vater, eine dreckige Hure, einen unnützen Tagedieb, eine revolutionäre Denkerin. Vielleicht sogar ein Symbol für einen egoistischen Akt der Selbstlosigkeit oder gar ein Beispiel für die Heranwachsenden, um ihnen klar zu machen, dass sie sich anpassen müssen, wenn sie im Wahnsinn der neuen Welt nicht zermalmt werden wollen.

Selbst wer den Krach in der Nachbarschaft gehört hat, dreht lieber den Fernseher ein bisschen lauter oder schließt das Fenster. Die reale Welt darf die Wunschwelt der Gesellschaft nicht stören. Fiktion ist so viel einladender als die Realität. Also gebe ich der Welt was sie möchte. Ich wähle die Nummer des populärsten Realitätsfilters des Landes. Die Stimme des Rezeptionisten spult die Begrüßungsformel herunter, leer und bedeutungslos. Klar und ruhig nenne ich ihm die Fakten: Fünf Tote, ermordet, gute Nachbarschaft, Polizei noch nicht informiert. Dann lege ich auf.

Die Welt will keine Fakten, sie will Geschichten. In der modernen Gesellschaft sind Fakten nicht mehr als ein erstes Gerüst. Das Gerüst wird geschmückt und ausgebaut bis eine Wahrheit entstanden ist. Dann wird sie ausgeliefert und den Wünschen der Nutzer angepasst. Neue tragende Säulen ergänzt, alte entfernt. Auch die Wahrheit muss sich der ständig verändernden Welt beugen. Die Lieferanten wollen es so und wenn die Lieferanten es wollen, dann werden die Konsumenten auch bald glauben, dass sie es so wollen.

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