Gesichter, Kapitel 1.2.

„Das Problem ist jawohl nicht zu überhören!“, etwas lauter als ein Mann der nicht gerade versucht hat die Nachbarschaft mit Opernmusik einzureißen, deutete John Schneider wütend und schimpfend auf das gepflegt aber dennoch in die Jahre gekommene Einfamilienhaus zu seiner Rechten. „Wir waren kurz davor bei Ihnen anzurufen, weil wir Frau Summers den ganzen Tag noch nicht gesehen haben und bei einer alleinstehenden Frau in ihrem Alter macht man sich als guter Nachbar in diesem Fall natürlich sorgen. Ich bin also gerade auf dem Weg zum Telefon, als die Alte anfängt bei offenem Fenster ihren Fernseher immer lauter zu drehen. Ich habe zwei Kinder, die morgen in die Schule müssen, weshalb ich natürlich rüber gegangen bin um Frau Summers zu bitten das Fernsehgerät etwas leiser zu drehen, aber stur wie sie ist hat sie mein Klingeln und meine Rufe natürlich ‚überhört‘, also habe ich Sie angerufen.“ John Schneider verfiel in eine Pause, offensichtlich zufrieden mit seiner Schilderung, und blickte Timothy Dalton erwartungsvoll an. Es dauerte eine Weile bis dieser seinen Stift sinken ließ. Enttäuscht hatte er auf seinem Notizblock das Wort ‚Ruhestörung‘ immer und immer wieder unterstrichen.

Die zwei Jahre im Streifendienst hatten dem Polizeiberuf Alles entrissen, was ihn einst so faszinierend machte. Banalitäten, Kaffee, Papierkram, Kaffee und jede Menge Pech waren in den letzten zwei Jahren sein Leben geworden. Die Überfälle, Morde und Beschattungen fielen anderen zu, geschahen woanders und schienen ihn generell zu meiden. Und hier stand er jetzt, ein weiteres Mal konfrontiert mit den quälend langweiligen Problemen anderer, während hinter seinem Rücken wichtige, interessante Dinge geschahen.

„Ich muss den Teil überhört haben, in dem Sie erklären, wieso Sie versucht haben sich mit Der Zauberflöte das Trommelfell auszustechen. Dadurch haben…“ Timothy Dalton wusste nicht, wie er den Satz beenden wollte, er hatte schon aufgehört zu sprechen bevor Herr Schneider auch nur den Mund geöffnet hatte. Timothy Dalton hatte in seiner Arbeit meistens mit Leuten zu tun, die irrationale Dinge aus irrationalen Gründen taten um irrationale Ziele zu erreichen. Herr Schneider hatte die High-Tech Soundanlage voll aufgedreht, weil die Geräusche aus dem Nachbarhaus seine abendliche Ruhe störten und folglich wusste Timothy Dalton in dem Moment in dem er „Zauberflöte“ gesagt hatte, dass für Herr Schneider nur eine logische Erwiderung auf seine Bemerkung zur Auswahl stand. „Sie kennen sich offenkundig nicht allzu gut mit klassischer Musik aus.“ John Schneider machte eine kleine Pause um Timothy Dalton abschätzend zu mustern und auf sein hohes Ross zu steigen ehe er fortfuhr. „Es handelt sich um „Le nozze di Figaro“, selber Komponist, anderes Stück. Sie werden einsehen müssen…“ Offenbar hatte John Schneider absolut nicht damit gerechnet seine Ausführungen nicht beenden zu können. Timothy Dalton hatte sich umgedreht, als sich seine Erwartung bestätigte und dabei dem sprichwörtlichen übergroßen Gaul so heftig auf die Flanke gehauen, dass dieser seinen Reiter abgeworfen und mit erschrockenem und enttäuschten Gesicht zurückgelassen hatte. „Ich werde dann mal mit Ihrer Nachbarin reden.“

Das Gras war penibel geschnitten, irgendein Gärtnerunternehmen musste sich an den Schneiders eine goldene Nase verdienen. Timothy Dalton hasste diesen perfekten Rasen, kein Grashalm der über die anderen herausragte oder nicht gerade nach oben wuchs. Wer so genau auf seinen Rasen achtet, der hat im Leben entweder alles erreicht oder rein gar nichts. Zu welcher Kategorie John Schneider gehörte lies Timothy Dalton erst einmal offen. Begleitet von dem viel zu lauten Gebrüll eines Küchenutensil Verkäufers aus dem Summers Haus schritt er den feinsäuberlich gepflasterten Weg durch den Vorgarten der Schneiders entlang zurück zum Bordstein.

Die Wache hatte kürzlich drei neue Streifenwagen angeschafft, neben einem davon blieb Timothy Dalton einen Augenblick stehen und für einen Moment ließ er sich wieder von der Idee mitreißen vielleicht an diesem Abend doch noch etwas Aufregendes zu erleben. Eine alleinstehende Frau in guter Wohngegend, die nicht auf Klingeln und Rufe reagiert. Dazu ein Einfamilienhaus und ein Fernseher, dessen Lautstärke so aufgedreht war, dass alle anderen Geräusche einfach untergingen. Als er eben noch am Steuer des brandneuen Wagens gesessen hatte waren ihm all diese Dinge schon einmal durch den Kopf gegangen und obwohl er dachte er hätte sie mit Vernunft und Disziplin am Wiederkommen gehindert waren sie doch wieder da, nur diesmal hatten sie auch ein Megaphon und ein paar Schilder dabei. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass diese Ideen nicht aus Hoffnung, sondern aus der gebotenen Professionalität auf alles vorbereitet zu sein geboren worden waren, erwog er auch andere Ursachen für die Situation und seine Stimmung verfinsterte sich wieder. Am wahrscheinlichsten war Ms Summers einfach schwerhörig und mochte ihre Nachbarn nicht, im schlimmsten Falle hatte sie vor Schreck über den lauten Fernseher schlicht einen Herzinfarkt bekommen.

Timothy Dalton betrachtete sein verzerrtes Spiegelbild noch eine Weile im polierten Blech des Polizeiwagens. Im kalten Licht der Straßenlaterne wirkte sein Gesicht wie das eines fremden, enttäuschten Mannes. Während er seinen Kopf hin und her drehte mischten sich die Überreste des schwinden roten Abendlichts in die Spiegelung. Es war definitiv sein Gesicht, das ihm da entgegenblickte, aber auch in diesem neuen Licht wirkte es kein bisschen weniger enttäuscht. Das knackende Rauschen des Funkgeräts holte Timothy Dalton zurück in die Realität. Über die Hereinbrechende Lautstärke einer Fitnesswerbung hätte er die Durchsage der Zentrale fast überhört.

Fünf Tote, wahrscheinlich ermordet, drei Straßen weiter, hohe Priorität für Beamte in der Nähe. Timothy Daltons Herz setzte für kurze Zeit aus, für einen kurzen Moment wurde ihm sogar schwindelig. Eine unangenehme Mischung aus Freude, Entsetzten und Angst pumpte durch seine Venen. Nach zwei Jahren, vier Monaten und 14 Tagen bei der Polizei würde heute sein erster Tag als Polizist werden.