Gesichter, Kapitel 1.2.

Kapitel 1 – Nächste in einer Großstadt – Teil 2

Der kalte Wind rüttelt an den rostigen Rolltoren der Garagen, treibt Plastiktüten, alte Zeitungen und trockenes Laub vor sich die Straße herunter. Langsam beginnt der Wind an einem angeschlagenen Fenster der Lagerhalle zu arbeiten. Nichts lockt die vergessenen Kinder und Jugendlichen der Vorstadt so sehr an, wie ein heiles Fenster in einer Bruchbude. Eine kaputte Welt sollte keine gepflegten Fenster besitzen. Sie gehören zerbrochen wie der eigene Glaube an ein schönes Leben; zerschmettert durch einen Stein, wie die eigene Unschuld durch das Blut des ermordeten Vaters auf dem Fußboden. Als würde der Wind verstehen, warum ausgerechnet dieses Fenster zerstört gehört, schlägt mit einem Mal eine heftige Böe gegen das angeschlagene Glas. Das knackende Geräusch des springenden Glases scheucht ein paar Mäuse auf, die auf der Suche nach etwas essbaren die Stahlträger vor dem Fenster erklommen haben. Einige Meter weiter im Inneren der Halle geht das knackende Geräusch im hektischen Lärm der Arbeitenden unter; versinkt ungehört, als sei das Glas nie zerbrochen.

Die halbmelodische Musik irgendeines aktuellen Chartstürmers reist Matt aus seinen finsteren Gedanken. Nick, der in Matthews Kopf eben noch wimmernd mit ausgekugelten Armen vor Susan Conston lag, beendet die Musik abrupt und nimmt das Telefonat entgegen. “Wieso rufst du mich an, ich hatte gesagt keine Anrufe bis das Ding gelaufen ist.” Nicks Stimme überschlägt sich wie das hysterische Quieken einer Ratte, die gerade in einen kleinen Schlangenkäfig geworfen wurde. Der nächste Satz bleibt ihm im Hals stecken. Mit wem auch immer er da sprach, der Unbekannte hatte Nick gerade verbal in den Bauch geschlagen. “Fuck… Mist… Das war meine… ich meine unsere letzte Chance… okay… nein… habe verstanden.” Tonlos stammelt er die Worte in sein überteuertes Handy, blickt entgeistert ins nirgendwo und legt auf. Er schüttelt einmal leicht den Kopf und versucht die Fassung wieder zu gewinnen bevor er sich den anderen zuwendet. “Die Sache ist abgeblasen. Packt zusammen. Wir müssen hier weg.” Er wendet sich der Tür zu, die Matthew aufgetreten hatte, geht langsam auf sie zu. “Ähm… Chef, was ist los?” fragt ein dicklicher Typ dessen kahler Kopf vor Schweiß triefend im kalten Neonlicht der Lampe wie eine Billiard-Kugel glänzt. “Fünffach Mord in der Einsatz-Straße. Zu gefährlich für uns.” Zunächst scheint Nick noch etwas sagen zu wollen, er streckt den Rücken durch und macht Anstalten sich umzudrehen. Doch kurz darauf sinkt er wieder in sich zusammen, öffnet die verrostete Tür und verlässt das Gebäude. Mit jedem Schritt saugt die Dunkelheit Nick tiefer in sich hinein und mit jedem Schritt wird Matts Lächeln breiter. Mit einem Mal schienen sich all seine Probleme gelöst zu haben. Was auch immer gerade passiert war, Matt spürte, dass er Nick nie wiedersehen würde. Nick würde zu einem weiteren namenlosen Opfer der Unterwelt werden.

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